Am 22. September 2017 erscheint mein neues Buch im Verlag Klaus Wagenbach:
Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur.
Hier ein paar Fragen und vor allem Antworten zu dem Buch:
Wie kommt das Buch zu seinem Titel?
Das Wort ‚Meisterwerte’ gab es bisher, soweit ich weiß, nur als Druck- oder Tippfehler. Aber was könnte besser und ironischer zum Ausdruck bringen, dass wir in einer Zeit und in einer Gesellschaft leben, in der es vielen Menschen sehr wichtig ist, Werte zu haben, nach Werten zu leben, sich auf Werte zu berufen, Werte zu verwirklichen? Von Werten ist die Rede, wo immer man hinhört. Und wer ein wenig genauer hinhört, kann bemerken, dass Werte als etwas empfunden werden, das durch den einzelnen Menschen – durch sein Handeln und Agieren – überhaupt erst real wird. Menschen erschaffen und gestalten also die Werte. Und weil sie auf ihre Schöpfungen stolz sind, bekennen sich auch gerne zu Werten. Die Werte haben somit den Charakter von Werken. Oft nehmen sich Menschen derselben Werte an, setzen sich für Nachhaltigkeit, für Freiheit, für Heimat, für Gerechtigkeit ein. Insofern sind die Werte, auf die sich besonders viele und besonders starke gestalterische Energien richten, für mich Meisterwerte.
Wenn Werte aber (wie) Werke sind, es zu ihrer Verwirklichung also, wie Sie sagen, gestalterischer Energien bedarf, haben dann nicht manche Menschen mehr und bessere Möglichkeiten als andere, sich auf Werte zu berufen – und damit auch als moralisch zu gelten?
Zuerst einmal hat es etwas Verheißungsvolles, wenn Moraldiskurse als Diskurse über Werte geführt werden. Denn bei Diskursen über Pflichten, Tugenden oder Ideale entsteht oft der Eindruck von Unfreiheit, als müsse man etwas Vorgegebenem folgen. Ist von Werten die Rede, steht hingegen die Vorstellung im Raum, man habe nicht nur Auswahl unter ganz unterschiedlichen Werten, sondern könne diese auch individuell zur Geltung bringen. Eine Wertethik passt also besser als andere Ethiken in eine stark individualistische Gesellschaft, aber auch in eine Zeit, in der Selbstverwirklichung und Kreativität viel zählen. Damit entsteht jedoch zugleich, wie ich finde, ein großes Problem. Denn tatsächlich haben nicht alle Menschen dieselben Voraussetzungen, um ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und um Werte zu verkörpern. Wenn Werte Werke sind, braucht es dafür sowohl eine kreative Begabung als auch Produktionsmittel, also – im weitesten Sinne – materielle Ressourcen. Ich kann einen Wert wie ‚Nachhaltigkeit’ nicht leben, wenn ich mir entsprechend hergestellte – oft teurere – Produkte nicht leisten kann, und ich werde den Wert nicht überzeugend und vorbildhaft vertreten, wenn ich nicht auch findig und gewitzt genug bin, um ihn in irgendeiner Weise originell zur Geltung zu bringen, sei es mit einem Crowdfunding-Projekt oder zumindest auf einem Instagram-Account. Das aber heißt, dass manche Menschen sich viel leichter tun als andere, den Ansprüchen einer Wertethik zu genügen. Ich befürchte sogar, dass eine Wertethik zwangsläufig zu einer neuen Form von Klassengesellschaft führt: Einer Moralaristokratie, die ihre Werte fortwährend in Szene setzt und sich als überlegen fühlen kann, steht ein Moralproletariat gegenüber, das, wie sollte es anders sein, Ressentiments entwickelt. Wenn ich mir in dem Buch, wie der Untertitel signalisiert, die heutige Bekenntniskultur vornehme, dann geht es mir um eine Analyse der wertefreudigen Moralaristokratie.
Wo beobachten Sie eine solche Moralaristokratie vor allem?
Man trifft sie in Biosupermärkten genauso wie bei Projekten des politischen Kunstaktivismus, unter YouTubern, die sich mit Ernährungsfragen befassen, nicht anders als bei CSD-Veranstaltungen. Er ist aber keineswegs nur ein Phänomen linker und emanzipatorischer Milieus, sondern findet sich ebenso bei Rechten und Rechtsextremen. Für mich besteht das Problem oder die gesellschaftliche Herausforderung auch weniger darin, dass bestimmte Werte stärker als andere Werte verwirklicht werden, als vor allem darin, dass viele Menschen zu wenig Möglichkeiten haben, um überhaupt an der Bekenntniskultur teilzunehmen.
Was genau befürchten Sie?
Als ich meiner Lektorin Susanne Müller-Wolff das erste Mal von dem Buchprojekt erzählte, sagte ich ihr, natürlich etwas im Scherz, das werde mein Beitrag zum Luther-Jahr 2017. Tatsächlich gibt es für mich durchaus Analogien zwischen der Reformationszeit und der Gegenwart. Wie die Protestanten den sozialen Frieden gefährdet sahen, weil Reiche und Mächtige viel eher als Menschen mit schlechteren sozioökonomischen Voraussetzungen etwa Ablassbriefe kaufen und damit Heilsgewissheit erlangen konnten, so habe ich die Sorge, dass sich in einer wertethisch orientierten Gesellschaft Menschen, die Werte realisieren und ihr Leben als sinnerfüllt und gerechtfertigt erfahren können, immer weiter von Menschen entfernen, die das nicht können. Das aber kann auf Dauer nicht gutgehen. Die populistischen Strömungen der Gegenwart deute ich als erste gefährliche Anzeichen eines Protests derer, die sich von einer herrschenden Moralelite – jener Moralaristokratie – schlecht behandelt oder gar unterdrückt fühlen.
Das klingt so, als sei Ihr neues Buch politischer, aber auch philosophischer als die bisherigen Bücher.
Sicher ist es politischer, vielleicht auch philosophischer, vor allem aber ist es soziologisch. Dennoch sehe ich darin eine Fortsetzung meiner bisherigen Arbeit. Und das nicht nur, weil es viel um Bilder – in denen Werte realisiert werden – und um Konsumphänomene – wo Werte eine besonders große Rolle spielen – geht. So deute ich die Werte und den Kult um sie auch als ein Nachfolgephänomen zur Kunstreligion, in der wiederum nicht zuletzt die Idee einer Werkheiligkeit fortlebte. Da ich mich schon verschiedentlich kritisch mit der Kunstreligion auseinandergesetzt habe, ist meine ebenso kritische Beschäftigung mit den Werten nun die geradezu logische Konsequenz. Es war mir auch wichtig, zu zeigen, dass in der Blütezeit der Wertephilosophie, die ja lange vor der heutigen Popularisierung der Werte lag und mit Namen wie Max Scheler und Nicolai Hartmann verknüpft wird, Werte bereits in Analogie zu Kunstwerken gedacht wurden. Das erklärt auch noch einmal den Titel meines Buches.
Was sieht man eigentlich auf dem Cover Ihres Buches?
Das ist ein Foto von einer Demonstration der Aktivistengruppe Tools for Action. Diese Gruppe verkörpert aus meiner Sicht nicht nur sehr gut den Hedonismus und Stolz wertearistokratischer Milieus, sondern wirkt mit Ballons als ihren ‚tools’ auch wie die bildgewordene Version eines Satzes von Niklas Luhmann, der in meinem Buch ebenfalls eine Rolle spielt: „Werte […] gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten.“[1]
[1] Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, S. 243.
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