Buchpräsentation: „Anton Henning: Noch moderner“

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Am 30. Mai 2018 wurde in Berlin das Buch „Anton Henning: Noch moderner“ präsentiert, das ich im Kerber Verlag veröffentlicht habe. Es ist drei Kilo schwer geworden, da es in großem Format (von der Grafikerin Verena Gerlach sehr feinsinnig in Szene gesetzt) mehr als 200 Werke Hennings aus den letzten 25 Jahren zeigt.

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Nachdem ich bereits früher über Henning geschrieben hatte, befasse ich mich in meinem Text diesmal mit seinem spezifischen Umgang mit der Malerei der Avantgarden. Deren stilistische Eigenheiten werden in seinem Werk neu verhandelt und ebenso überraschend wie schlüssig zusammengeführt. Weit entfernt von Strategien des Appropriierens, des Re-enactment oder des Sampelns, die alle noch der Postmoderne entstammen, kommt auf Hennings Bildern eine Erfahrung zum Ausdruck, die sowohl davon geprägt ist als auch reflektiert, wie moderne Künstler von Modigliani bis Bacon, von Matisse bis Picabia, von Delaunay bis Guston sich ihre Welt malerisch anverwandelt haben.

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Das Ergebnis bezeichne ich als ‚geläuterte Moderne’: So sehr der überschwänglich-pathetische, zum Teil sogar martialische Charakter der Avantgarden verschwunden ist, so sehr wird überhaupt erst sichtbar, welche Stilmittel und Transformationen aus der Moderne weiter gelten. Bei Anton Henning werden sie in ihren Möglichkeiten ausgeschöpft und weiterentwickelt.

Im folgenden veröffentliche ich den Buchbeitrag „Anton Henning und die geläuterte Moderne“:

Schrift taucht auf den Gemälden Anton Hennings nur selten auf. In der unteren rechten Ecke auf einem Bild von 1997 aber stehen, in dünnen, leicht schiefen Buchstaben, oberhalb der viel kleineren Signatur, die Worte „noch moderner“. Sie sind auf hellen Grund geschrieben, der sonst in der linken und unteren Randzone des Bildes nicht weiter bemalt wurde. Den Rest der Fläche füllen vier annähernd quadratische Flächen, als Schachbrettmuster in kräftigem und blassem Orange angelegt. Darauf wiederum ist, sich von oben rechts in das Bild schlängelnd, eine Kette aus fünf Würsten gemalt. Sie wirken als einziges räumlich, da sie leichte Schatten werfen. 

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[Abb. 1: Anton Henning: noch moderner (1997)] Wer sich ein wenig in der jüngeren Kunstgeschichte auskennt, wird nicht umhinkommen, bei diesem Gemälde an Sigmar Polke zu denken. Und das nicht nur einmal, sondern mindestens dreimal. Man könnte in Anton Hennings Bild „noch moderner“ (so auch sein Titel) sogar eine Verbindung und Variation mehrerer der bekanntesten Werke Polkes sehen. So waren Würste bei ihm öfter ein Thema, am prominentesten auf dem Gemälde „Würstchen“ (1964), aber auch schon ein Jahr zuvor auf dem Gemälde „Der Wurstesser“, wo sie wie bei Henning als Kette auftauchen. [Abb. 2: Sigmar Polke: Der Wurstesser (1963)]

Dass dieser sie oben rechts in das Bild setzt und insgesamt nur dessen oberen rechten Teil bemalt, erinnert an Polkes 1969 entstandenes Bild „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“. Mit dem Titel „noch moderner“ aber nimmt Henning Bezug auf ein weiteres Werk Polkes: „Moderne Kunst“ aus dem Jahr 1968. Polke hat den Titel ebenfalls in das Bild geschrieben, seinerseits am unteren, sonst leer gelassenen Rand. [Abb. 3: Sigmar Polke: Moderne Kunst (1968)]

Auf Polkes „Moderne Kunst“ finden sich diverse Elemente der Klassischen Moderne: ein Farbspritzer à la Jackson Pollock genauso wie gestisch-expressiv gesetzte Pinselstriche im Stil Hans Hartungs, durch eine Kreuzform bedeutungsschwer aufgeladen, zugleich jedoch verspielte Kringel und Bögen, die an Wassily Kandinskys mittlere Werkphase erinnern, oder strenge Dreiecke, die aus dem Formenschatz des Konstruktivismus stammen. Offenkundig haben die Stilmittel ihre Herkunft also in unterschiedlichen, sogar in unvereinbaren Richtungen. Denn während es im abstrakten Expressionismus darum ging, aus nicht bewusst gesteuerten Gesten bildnerische Wahrheit zu gewinnen, setzten die Konstruktivisten darauf, durch die gezielte Reduktion auf geometrische Grundformen etwas Allgemeingültiges über die Welt auszusagen. Auf Polkes Bild glaubt man die Unvereinbarkeit der Elemente zu spüren. Sie wirken unverbunden, bloß addiert, werden damit einzeln exponiert und erscheinen daher auch beliebig. Insgesamt entsteht der Eindruck einer Persiflage auf moderne Kunst: als habe Polke diese so gemalt, wie sie den Vorurteilen vieler Laien zufolge ist, nämlich eine willkürlich-chaotische Abfolge von Schmierereien; etwas, das jedes Kind kann.

Sofern Polke ein negatives Klischeebild der Moderne reproduziert (und sich darüber amüsiert), nimmt er zugleich Möchtegern-Künstler aufs Korn, die moderne Kunst machen wollen, sich aber von verschiedenen Stilen gleichermaßen beeinflussen lassen, nur um auch ganz gewiss modern zu sein. Ihre Werke illustrieren dann lediglich einen Begriff – das Image – moderner Kunst; ihnen liegt keine eigene Idee von Wahrheit, kein ambitioniertes Programm im Geist der Avantgarden zugrunde.

Neben Kunstbanausen und schlechten Künstlern soll Polkes Kritik allerdings auch die metaphysisch-strengen Heroen der Moderne treffen, auf die jene Elemente zurückgehen, die er in seinem Bild aufgreift. Ihnen gibt er zu bedenken, wie schnell harmlos, gar lächerlich wirkt, was sie mit so viel Pathos entwickelt haben. Und was, so seine unangenehme Frage, ist eine Kunst wert, deren Wahrheiten so wenig Evidenz haben, dass sie jederzeit ins Absurde gezogen werden kann?

Mit dieser von seinem Gemälde provozierten Frage bewährt sich Polke als Vertreter der Pop Art, die gerade auf Distanz zu den hehren Anspüchen der Klassischen Moderne geht. Statt auf formale Letztbegründungen und weltgeschichtliche Revolutionen setzt man in ihr auf die Analyse von Alltagsphänomenen in Medien und Konsum, reflektiert bildsoziologische Themen und sieht die Rolle des Künstlers darin, ein ebenso witziger wie intelligenter Beobachter des Zeitgeschehens zu sein.

Was aber macht Anton Henning in „noch moderner“? Wiederholt er Polkes Kritik? Führt er sie weiter? Geht es ihm überhaupt um Kritik? Zuerst einmal ist festzuhalten, dass die Wendung „noch moderner“ einen zentralen Punkt aller Spielarten von Moderne benennt. Diese kommen nämlich darin überein, an den – oder zumindest einen – Fortschritt zu glauben. Wer modern sein (und bleiben) will, muss also immer schon danach streben, noch moderner zu sein. Es muss daher das, was schon da ist und anderen noch als modern gilt, überwunden oder überboten werden. Genau das machte auch Polke, als er sich über das erhob, was im Zuge der Avantgarden als Moderne entstanden war. Mit seinem Bild betrieb er genauso Vatermord wie Pablo Picasso, als er in den „Demoiselles d’Avignon“ (1907) den perspektivischen Bildraum aufgab und sich statt auf Vorbilder der westlichen Kunst auf afrikanische Masken bezog. Polkes Motivation, das Bild „Moderne Kunst“ zu malen, bestand also gerade darin, „noch moderner“ sein zu wollen als alle anderen.

Mit seinem Bildtitel macht Henning auf das Fortschrittsdogma der Moderne aufmerksam, und indem er Polkes Bildelemente und Ikonographien ganz ähnlich mischt und variiert wie dieser die der Avantgarden abstrakter Kunst, spielt er auch auf dessen Kritik und Überwindungsgestus an. Aber genau diesen Gestus wiederholt Henning nicht: Auf seinem Gemälde findet gerade keine Persiflage statt; Polkes Stilmittel und Bildideen werden nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern erscheinen im Gegeneil als weiterhin gültige künstlerische Instrumente. Anton Henning demonstriert, wie man auch mit etablierten Mitteln neue Bilder machen kann; er beweist, dass „noch moderner“ nicht zu heißen braucht, sich von allem loszusagen, was nur modern oder gar altmodisch ist. Seine Lesart von „noch moderner“ lautet vielmehr: Alles verwenden, was grundsätzlich zur Verfügung steht. Warum sollte man sich als Künstler etwas verbieten, nur weil es schon (länger) existiert? Im Gegenteil: Es reizt, gerade auf das zu rekurrieren, was vielleicht vorschnell als nicht mehr modern galt und ausgemustert wurde. Und kann es nicht sogar zum Programm werden, ungenutzte Möglichkeiten fruchtbar zu machen, neue Symbiosen aus Vorhandenem zu schaffen und damit Unerwartetes freizulegen?

Moderne und Postmoderne

Anton Henning kehrt also zur Moderne zurück, indem er ihre Fortschrittsimperative überwindet. Er ist insofern – keineswegs nur in geichnamigem Bild – „noch moderner“, als er das, was zur Moderne gehört, nicht im sturen Blick nach vorne negiert, sondern weiter damit arbeitet. Wer das paradox findet, steckt selbst noch in der Denklogik der Moderne – und setzt fort, was einer Position wie der Anton Hennings im Kontrast dazu überhaupt erst Relevanz verleiht. Denn nur weil die Moderne so fortschrittsversessen war, ist vieles von dem, was in ihr entwickelt wurde, noch keineswegs aufgearbeitet. Bevor es dazu kommen konnte, wähnte man es ja bereits als nicht mehr modern genug, und in der Sorge, als rückständig und zu wenig originell zu erscheinen, nahm man lieber Abstand davon und forschte nach Neuem, idealerweise radikal anderem. Ehe also wirklich ausgelotet war, was die bildnerischen Mittel des Pointillismus, Cloisonismus, Fauvismus, orphischen Kubismus, Konstruktivismus, Suprematismus oder Elementarismus an Möglichkeiten boten, wurden sie zugunsten von noch Modernerem verabschiedet. Nicht nur Kritiker moderner Kunst sprachen daher ab Beginn des 20. Jahrhunderts von der „Stilhetze“ als besonderem Kennzeichen der Moderne.[1]

Man könnte auch sagen, dass keine andere Epoche so verschwenderisch mit formalen Inventionen umging wie die Moderne. Diese Überschussproduktion war aber vor allem Folge der ideologischen Aufladung der diversen Ismen. Ohne sie – also etwa die Fundierung des Pointillismus auf einen naturwissenschaftlichen Begriff vom Sehen oder die Gründung des Suprematismus auf ein metaphysisches Verständnis von Erkenntnis – hätte es keinen Glauben an den Fortschritt geben können, existiert dieser doch nur bezogen auf Kriterien, also auf der Basis von Begriffen und Ideen. ‚Wahrheit’, ‚Reinheit’, ‚Ursprünglichkeit’ waren solche Ideen, an denen man maß, was moderner als etwas anderes war. Und weil jede neue Richtung wieder mit dem Anspruch auftrat, wahrer, reiner, ursprünglicher als sämtliche Vorgänger und Konkurrenten zu sein, ihre Vertreter also überzeugt davon waren, als einzige auf dem richtigen und revolutionären Weg zu sein, hat die Moderne mit ihren zahlreichen Avantgarden, Strömungen und Schulen eine große Menge an Stilen, Bildsprachen, Werkformen hinterlassen. Immerhin erschienen die jeweiligen Stilmittel ihrerseits obsolet, sobald die Ideologeme einer Richtung an Autorität einbüßten. Die verschiedenen Richtungen bekämpften sich zum Teil auch gegenseitig, stritten um Varianten der Abstraktion und Repräsentation und waren grundsätzlich schneller im Ablehnen und Verweigern als im Annehmen und Weiterführen. Und so lässt sich heute auf zahlreiche Relikte missionarischen Eifers und adventistischer Gesinnung zurückblicken; sie sind Zeugnisse des Willens, mit der Kunst die Gesellschaft zu verbessern.

Als die ideologischen Grundlagen der Moderne gegen Ende des 20. Jahrhunderts insgesamt einer Analyse unterzogen und dabei – in Fortsetzung einer Pop Art à la Polke – kritisch in den Blick genommen wurden, stellte man auch die formalen Errungenschaften der Avantgarden wieder zur Diskussion. Innerhalb der nun einsetzenden Postmoderne wurden sie gleichsam mit spitzen Fingern angefasst, nämlich am liebsten einzeln zitiert, also nur in Anführungszeichen verwendet. Statt sie ungebrochen aufzugreifen, wollte man sie dekonstruieren, um ihnen als den Trägern von Ideologie auf die Spur zu kommen und sie unschädlich zu machen. Die gesamte Postmoderne war von Skepsis und Ironie geprägt; sie war getragen von einer Angst vor dem Fundamentalismus der Moderne. Doch waren ihre Vertreter auch geradezu zwanghaft im Modus der Gag-Produktion, nahmen schließlich sogar sich selbst nicht wirklich ernst. Innerhalb der Malerei verkörpert Martin Kippenberger die postmoderne Mentalität beispielhaft; in einem Bild wie „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen“ (1984) spielt er mit den Stilelementen des Kubismus und Konstruktivismus, aber dank des Titels auch mit der Attitüde des Verdachts, durch die kein Stilmittel mehr unschuldig sein – und verwendet werden – kann, sondern von vornherein mit den Ideologien und Gewaltregimes des 20. Jahrhunderts verknüpft ist. [Abb. 4: Martin Kippenberger: Ich kann beim besten    Willen kein Hakenkreuz erkennen (1984)]

 Zweite Moderne – Metamoderne

In seinen Anfängen stand Anton Henning, der in den 1980er Jahren zum Künstler wurde und einige Zeit in London und New York lebte, dem damals weit verbreiteten postmodernen Habitus nahe. Auch er griff auf Spielarten abstrakter Kunst oder auf Klassiker des Bauhaus-Designs zurück und kontrastierte Elemente auf gezielt amüsante Weise. Und selbstverständlich war auch er völlig unideologisch. Allerdings trifft man ab der Mitte der 1990er Jahre in seinen Bildern zunehmend auf entschlossene und unironische Einsätze von Farbkreisen à la Robert Delaunay, Kringeln à la Henri Matisse oder Farbflächen à la Kees van Dongen. Tatsächlich verloren sich bei Henning nach und nach die Skrupel, die seine um zehn oder zwanzig Jahre älteren Kollegen noch besaßen; sein Umgang mit der Moderne wurde freier und entspannter, statt Pointen bieten seine Bilder nun Humor und Lebensfreude. Anders als in der Postmoderne handelt es sich nicht länger um Zitate und schon gar nicht um Appropriationen; vielmehr wirken die bildnerischen Mittel jeweils aus sich heraus neu entwickelt. Dass sie mittlerweile von ihren weltanschaulichen Ursprüngen gelöst waren, nutzte Henning als einer der ersten dazu, sie frisch zu kombinieren und weiterzuentwickeln. Damit aber kennzeichnet sein Werk nicht mehr eine Kritik an der Moderne, sondern stellt den Versuch eines zweiten Anlaufs dar.

Diese Praxis steht ihrerseits nicht isoliert da. So prägte der Kunstwissenschaftler Heinrich Klotz bereits in den frühen 1990er Jahren den Begriff der ‚Zweiten Moderne’, um eine Mentalität zu charakterisieren, die nicht mehr so ideologisch wie die (erste) Moderne, aber auch nicht so skeptisch-distanziert wie die Postmoderne ist. Ersterer verdankt die Zweite Moderne einen großen Pool an Stilmitteln, letztere animiert zu einem spielerisch-freien Umgang damit: „Die Moderne ist durch die Postmoderne hindurchgegangen und hat von dieser einen ästhetischen Erfahrungsgewinn […] mitgenommen.“[2] Klotz stellt dies an Künstlern wie Sean Scully und Günther Förg dar, bei denen er vor allem hervorhebt, wie sie geometrische Formen, an die die Avantgarde einst große Erkenntnis- und Erlösungshoffnungen gerichtet hatte, viel freier, aber dennoch ganz ernsthaft wiederverwenden. So seien die Flächen nun „vom Duktus der Handschrift gelockert“; auf Förgs Bildern ergebe sich „eine zweite Ebene unter der Geometrie der Balken, die irrational und scheinbar unkontrolliert gegen das geometrisch Gebändigte für eine liberalere Ordnung sorgt“. Als „Vorbedingung“ für eine solche Malerei hebt Klotz „das große Bildformat“ hervor, das „für den frei ausholenden Pinselstrich Raum“ lasse.[3] [Abb. 5: Günther Förg: untitled (WVF.86.B.0001) (1986)]

Mit demselben Argument könnte man das Formklima auf Anton Hennings Gemälden erklären. Auch sie sind im Durchschnitt deutlich größer als die Sofabildformate der Klassischen Moderne, lassen dem Maler somit genügend Fläche nicht nur für einen schnellen Duktus, sondern genauso zum Extemporieren und Improvisieren. Erst dadurch aber wird es möglich, die jeweiligen Stilmittel (im wörtlichen Sinne) weiterzuentwickeln, sie zu entfalten, zu verwandeln, miteinander in Austausch zu bringen. Anton Henning geht dabei auch weit über das hinaus, was die von Klotz genannten Repräsentanten einer ‚Zweiten Moderne’ in ihrem Werk bieten. Insbesondere rekurriert er nicht nur auf die geometrisch-konstruktivistischen Richtungen der Moderne, sondern auf Stilelemente und Ikonografien fast aller Avantgarden, vor allem auf die Vertreter der ‚École de Paris’ von Pablo Picasso bis Amedeo Modigliani, von Henri Matisse bis Raoul Dufy. Seit den 1990er Jahren hat er dabei immer wieder andere Errungenschaften der Moderne ins Spiel gebracht, diese aber auch nach und nach kompakter und enger miteinander verbunden und in neue Einheiten überführt.

Das große Format vieler Gemälde Anton Hennings zeugt zudem von Selbstbewusstsein, aber auch von Energie und Risikofreude, die jegliche postmoderne Skepsis in den Schatten stellen. Doch nicht nur die Größe, sondern auch die Menge der Bilder – eine längst vierstellige Zahl – wäre nicht denkbar ohne den hartnäckigen Wunsch, so viel wie möglich auszuprobieren. Selten steht ein Bild bei Henning für sich alleine, vielmehr legt er von einem Sujet oder Bildtyp mehrere, manchmal sogar sehr viele Varianten an. In seinem Atelier hängen Duzende von Werken gleichzeitig an den Wänden, etliche davon sind parallel in Arbeit, andere fungieren als Referenzen früherer Werkphasen. Henning ist also fortwährend in Wettstreit mit sich selbst; auf die für die Postmoderne bezeichnenden Strategien der Distanzierung trifft man bei ihm gerade nicht.

Dafür passt Hennings Oeuvre seinem Charakter nach nicht nur zur Zweiten Moderne, sondern erst recht zu einem weiteren Begriff, der den Zeitgeist nach der Postmoderne zu fassen beansprucht. Es ist der Begriff der Metamoderne, von den beiden Kulturphilosophen Robin van den Akker und Timotheus Vermeulen zuerst 2010 geprägt und in den Folgejahren näher beschrieben und differenziert. Sie beobachten, dass die in der Moderne selbstverständlichen Sehnsüchte nach Wahrheit, Erkenntnis, Erlösung, die in der Postmoderne sämtlich diskreditiert wurden, doch nicht ganz verschwunden sind und sogar modifiziert wiederkehren. Dennoch wird der anti-ideologische Habitus der Postmoderne grundsätzlich weiter für gut befunden. Daraus ergibt sich ein „pragmatische[r] Idealismus“. Van den Akker und Vermeulen beschreiben den typischen Vertreter der Metamoderne als jemanden, der zwischen Polen schwankt: Ihm sind „Parodie“, „ironische Dekonstruktion“ und „nihilistische Destruktion“, also die Methoden der Postmoderne, zu wenig, lassen sie den Menschen doch mit seiner Sehnsucht nach einem höheren Sinn allein. So pendelt er „zwischen modernem Enthusiasmus und postmoderner Ironie, zwischen Hoffnung und Melancholie, zwischen naïveté und Wissen, Empathie und Apathie, Einheit und Vielheit, Totalität und Fragmentierung, Reinheit und Ambiguität.“ Und sobald sein Streben nach Absolutem zu stark wird und „der Enthusiasmus […] in Richtung Fanatismus ausschwingt, zieht ihn die Gravitation zurück zur Ironie; wenn seine Ironie zur Apathie zu schwanken droht, lenkt die Gravitation zurück zum Enthusiasmus“.[4]

Als Beispiel für einen metamodernen Künstler nennen van den Akker und Vermeulen den Maler Armin Boehm. Seine Gemälde seien „zaghaft und figurativ, zugleich atonal und farbenfroh, von Dunkelheit hell erleuchtet, und zeigen Orte, die wir bewohnen, aber noch nie erlebt haben“.[5] [Abb. 6: Armin Boehm: Obszöne Tiere (2016)] Wird die Metamoderne hier – und generell – in Form einer Vereinigung von Gegensätzen und damit als Paradoxie beschrieben, so könnte man aber, in einer etwas anderen Denkfigur, genauso diagnostizieren, dass ein Moment jeweils im anderen aufgehoben wird und damit insgesamt ein Ausgleich, ja eine Läuterung stattfindet. Der martialisch-dogmatische Habitus der Moderne ist zivilisiert, die dekonstruktive Energie der Postmoderne ihrer Schrillheit entledigt, und daraus ergibt sich ein heiter-beschwingtes Zusammenwirken diverser Elemente. Und so sehr es Ausschläge in die eine oder andere Richtung geben mag, so wenig geht es doch um ein bewusstes oder gar methodisches Pendeln zwischen Extremen; vielmehr gelangen die verschiedenen Momente bestenfalls zur Deckung, sind simultan und nicht abwechselnd präsent.

Geläuterte Moderne

Statt von einer Zweiten Moderne oder einer Metamoderne könnte man dann von einer geläuterten Moderne sprechen. Vielleicht nirgendwo sonst ist so gut wie in Anton Hennings Werk nachzuvollziehen, dass viele der formalen Neuerungen und Besonderheiten der Klassischen Moderne neue Geltung erlangen können, sobald sie als solche ernst genommen, aber nicht mit metaphysischer Bedeutung und politisch-weltanschaulicher Ambition beschwert werden. Die Überwindung des zentralperspektivischen Bildraums, den er manchmal kubistisch multipliziert, manchmal aber auch ins Ornamentale auflöst, ist bei Henning nicht mehr philosophisch oder religiös begründet; Formen der Abstraktion liegt bei ihm keine Letztbegründungsabsicht zugrunde, und wenn er sich dem Fauvismus oder Expressionismus annähert und die Faktur oder die Farben zur Hauptsache werden, dann ist das kein antizivilisatorischer Akt, ja nicht Folge der Überzeugung, dass der moderne Mensch erst dann zur Wahrheit finden könne, wenn er möglichst viele Konventionen hinter sich lasse und zu einem Urzustand zurückfinde. Ohne ideologische Grundierungen sind die einzelnen Stilelemente und Sujets aber auch nicht länger unvereinbar (was bei Polke noch Thema war), sondern können grundsätzlich in beliebigen Verbindungen und Mischungen zum Einsatz gebracht werden. So passt Obst im Stil George Braques auf einmal gut zu einem Sofa à la David Hockney oder zu einer Zigarette, wie sie Philip Guston hätte malen können. Im Plural verwendet und damit immer wieder in Beziehung zueinander gebracht, treten sie sogar umso mehr in ihren formalen Qualitäten zutage; letzte Reste an Weltanschauung und Metaphysik, die mit ihnen noch assoziiert sein mögen, verschwinden.

Anton Henning nimmt die Bildsprachen der Moderne damit sogar noch ernster, als deren Vertreter – und Erfinder – es getan haben, denn er legitimiert sie nicht erst mit Theorien und Manifesten, sondern vertraut ihnen ganz als solchen. Derart befreit von inhaltlicher Aufladung kommen die bildnerischen Errungenschaften der Moderne also in geläuterter Weise zur Geltung, können sich neu bewähren oder überraschend weiterentwickeln.

In Anton Hennings Werk bestätigt sich daher auch eine der Botschaften, unter die Roger Buergel 2007 die von ihm kuratierte documenta 12 gestellt hatte. „Die Moderne ist unsere Antike“, hieß es damals, womit das Verhältnis zwischen Gegenwart und Klassischer Moderne mit dem verglichen wurde, das zwischen Renaissance oder Klassizismus einerseits und der griechischen oder römischen Antike andererseits bestanden hatte: Unter jeweils anderen mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen kommt es zu einer Wiederaufnahme bildnerischer Mittel. Diese werden ursprünglicher Bedeutungen entkleidet und sind frei für neue Verwendungsweisen. Buergel sprach auch von der „Migration der Formen“, womit er deutlich machte, dass diese unabhängig von inhaltlicher Aufladung fortbestehen und ganz eigene Wege gehen können, es also „Formschicksale“ gibt, durch die Charakter und Möglichkeiten eines Stilelements oder bildnerischen Mittels nach und nach an Präsenz gewinnen.[6]

Wie die Antike erst durch ihr langes und vielfältiges Nachwirken bedeutsam wurde, könnte das auch einmal für die Moderne gelten. In deren Transformation und Aneignung in einem Oeuvre wie dem von Anton Henning wird erkennbar, welche Leistungen gerade die Avantgarden hervorgebracht haben. Für den Betrachter seiner Bilder entsteht sogar der Eindruck, Henning empfinde eine Art von Verpflichtung gegenüber den Hinterlassenschaften der Moderne, diese seien aber auch wie eine freundliche Variante von Fluch: zu stark, als dass man davon loskommen könnte, bevor sie nicht aufgenommen, weitergeführt und zu einer Art von Vollendung gebracht worden sind.

Von einer geläuterten Moderne zu sprechen, meint daher nicht nur, dass bildnerische Mittel von ideologischem Ballast befreit werden, sondern bedeutet auch, sich ihnen mit Geduld, gar obsessiv zu widmen und ihnen den Raum zu geben, den sie benötigen. Geläutert wird die Moderne, wenn man bei ihren Stilmitteln verweilt und sich auf sie einlässt, statt den Blick nur nach vorne zu richten und sie überwinden zu wollen. Wer aus einer solchen geläutert-läuternden Haltung heraus tätig ist, wird aber auch laute Töne und extrovertierte Gesten ablegen und dafür Bilder entwickeln, auf denen die einzelnen Teile und Elemente zu spannungsvollen Einheiten zusammenfinden.

‚Retractationes’

Wie sich der Charakter von Anton Hennings Gemälden seit den 1990er Jahren im Sinne einer geläuterten Moderne verändert hat, lässt sich besonders gut nachvollziehen, wenn man eine weitere Besonderheit seines Schaffens betrachtet. So übermalt er Bilder häufig nach einigen Jahren, verändert sie also entsprechend dem mittlerweile vollzogenen Temperamentswandel, dokumentiert frühere Fassungen aber in seinem Werkverzeichnis, so dass ein Vergleich zwischen den verschiedenen Versionen möglich ist. Im Jahr 1993 – also noch in Hennings postmoderner Phase – entstand etwa „Chair Painting No. 1“.

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[Abb. 7: Anton Henning: Chair Painting No. 1 (1993)                                                 (übermalt)] Die Leinwand ist in zwanzig Flächen unterteilt, sechzehn davon annähernd quadratisch, vier wie halbierte Quadrate. Jede der Flächen ist in einer anderen Farbe ausgemalt, wobei Orange- und Grüntöne ein Übergewicht haben. Der ungegenständlichen Farbfeldmalerei sind als Kontrast zwei perspektivisch dargestellte Objekte vorgelagert: ein Freischwinger von Marcel Breuer und ein Herd im Stil von Rosemarie Trockel. Auch sie verkörpern einen Gegensatz. So zitiert Henning mit ihnen Ikonen aus zwei verschiedenen Phasen der Moderne, kombiniert zudem ein Möbelstück und ein Kunstwerk – und rückt beide schließlich so nah nebeneinander, dass sich die Knie am Herd anstieße, wer auf dem Stuhl Platz nähme.

Der ungemütlich-ironische Eindruck verschwindet, wenn Henning das Bild im Jahr 2008 übermalt. Dabei dreht er es um 90 Grad nach rechts und ändert den Titel in „Interieur No. 411“.

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[Abb. 8: Anton Henning: Interieur No. 411 (2008)                                                       (übermalt)] Herd und Stuhl sind nun verschwunden, und statt eines einheitlichen Innenraums gibt es lediglich diverse Ansätze zu einem illusionistischen Bildraum, konstituiert aus zum Teil fächerartig aneinandergereihten Farbflächen mit fast immer eckigen Grundformen. Die Quadrate der ersten Fassung haben jeweils eine Binnendifferenzierung erfahren, einige sind so stark übermalt, dass sie als solche nicht mehr zu erkennen sind. Die Farbigkeit ist noch bunter geworden, was dem Gemälde eine spielerisch-fröhliche Ausstrahlung verleiht, während andererseits kein Zweifel mehr darüber möglich ist, dass Henning die bildnerischen Mittel ganz ernsthaft zum Einsatz bringt.

Acht Jahre später, 2016, kommt es zu einer dritten Fassung. Die Leinwand wird dafür nochmals um 180 Grad gedreht, der Titel zu „Interieur No. 542“ angepasst.

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[Abb. 9: Anton Henning: Interieur No. 542 (2016)] Die Flächen sind zum größten Teil nochmals neu angelegt, zusätzlich zu den eckigen Formen gibt es nun etliche runde oder blattartige Kompartimente. Aber auch infolge einer veränderten Farbigkeit kommt es zu einem organischeren Gesamteindruck. So nehmen die Grüntöne mehr Raum ein, zugleich sind die grellen Farben zugunsten von Braun- und Erdtönen verschwunden. Das Bild ist nicht länger von Kontrasten geprägt, sondern erscheint als eine Symphonie: als harmonischer Zusammenklang aller Elemente. Gegenüber der zweiten Version hat sich auch die Bilddichte erhöht, und obwohl die Zahl der Teile, aus denen das Bild besteht, nochmals deutlich größer geworden ist, wirkt es ruhiger und konzentrierter. Und selbst wenn man an einigen Stellen an Robert Delaunay oder Juan Gris denken oder ein vages Déjà-vu-Erlebnis empfinden mag, haben sich die formalen Mittel, die Henning einsetzt, inzwischen so weit von ihren Ursprüngen in der Klassischen Moderne emanzipiert, dass alles, was ehedem noch mit ihnen assoziiert werden mochte, überwunden ist, sie also in geläuterter, geklärter Weise in Erscheinung treten.

Das Prinzip der Läuterung wendet Henning tatsächlich nicht nur für die Moderne, sondern genauso bezogen auf sein eigenes Werk an. Die Übermalungen sind bei ihm nämlich keine ikonoklastisch-aggressiven Affekte, wie schon daran deutlich wird, dass er die Signaturen der einzelnen Fassungen meist stehen lässt. Damit ist für den Betrachter erkennbar, dass die Gemälde eine Geschichte haben, wobei Bild um Bild übereinandergelegt, aber nicht eines vom nächsten zunichtegemacht wird. Vielmehr lässt Henning sich, wenn er eine neue Schicht anlegt, von bereits Vorhandenem anregen. Er bezieht es ein, überformt es und schafft so einen Ausgleich zwischen Elementen, die zuerst noch eine Disharmonie oder Unwucht erzeugt haben mochten.

Man könnte diese Praxis auch als Revision oder ‚retractatio’ bezeichnen, letzteres in Anspielung auf Augustinus, der seine eigenen Schriften in späteren Phasen seines Lebens einer Relektüre unterzog und sich dabei nochmals genau Rechenschaft darüber ablegte. Er modifizierte und kommentierte die Texte mit dem Anspruch, sie insgesamt ausgewogener und differenzierter abzufassen. Die auf diese Weise entstandenen „Retractationes“ sind somit ihrerseits geläuterte Versionen. Und ausdrücklich zur Methode erhoben, wird die Läuterung auch zu einem fortwährenden Prozess; es handelt sich dabei gerade um keinen einmaligen Vorgang. So wenig etwas jemals völlig überholt sein mag, so wenig ist es also jemals vollendet.

Autonomie

Läuterung bedeutet jedoch auch Aktualisierung. Statt anzuerkennen, dass eine formale Eigenschaft, ein Stil oder ein Werkzustand für eine bestimmte Zeit oder Haltung stehen, werden sie modifiziert und dem jeweils aktuellen Horizont angepasst. Gerade wenn Autoren oder Künstler ihr eigenes Werk einer Revision unterziehen, stellt das den Versuch dar, Vergangenheit in neue Gegenwart zu verwandeln und nicht als solche stehen zu lassen. Und wenn Anton Henning sich nicht nur eigene Gemälde, sondern die gesamte Moderne wieder und wieder vornimmt, dann negiert er historische Distanzen. Daran zeigt sich auch nochmals, was es heißt, von einem Fortschrittsdenken Abschied zu nehmen. Wer ihm huldigt, will gerade die Differenz des Eigenen zu Früherem sichtbar machen und sie vielleicht sogar überbetonen, um den zurückgelegten Weg zu demonstrieren: Fortschritt wird nur erfahrbar, wenn es möglichst vieles gibt, das klar als vergangen deklariert werden kann. Wer hingegen eine Idee von Fortschritt aufgibt, neigt dazu, verschiedene Zeiten als gleichberechtigt zu denken und Verbindendes sowie Übergänge zu suchen. Erst dadurch wird eine Läuterung möglich, beruht sie doch gerade auf der Vorstellung, dass noch vieles im Alten und Vergangenen steckt, es also nicht verabschiedet, sondern angemessen entfaltet werden muss.

Eine Praxis des Läuterns führt somit zu einer ahistorischen Mentalität. Die daraus entstehenden Werke werden nicht als Ausdruck einer bestimmten Zeit gedeutet, und so sehr sie dank einer Aktualisierung von schon Bestehendem bestenfalls zeitlos gegenwärtig erscheinen, so wenig sind sie ‚aktuell’ im Sinne von ‚zeitgemäß zugespitzt’. Das galt für die Renaissance oder den Klassizismus bezogen auf die Antike, und das gilt für einen Künstler wie Anton Henning bezogen auf die Moderne. Seine Gemälde gehen darin auf, das in ihr Entstandene neu zu verlebendigen, es aus sich heraus weiterzuentwickeln. Sie sind daher auch im strengsten Sinne autonom: etwas, das keinen externen Einflüssen und Ansprüchen gehorcht, sondern seine Dynamik den eigenen Elementen verdankt. Vor einem einzelnen Bild und erst recht im Vergleich der Werke einer Serie lässt sich nachvollziehen, wie ein formales Mittel eingesetzt, freigespielt, fortentwickelt, mit einem anderen verbunden, einem weiteren als Gegenakzent assoziiert wird. Man kann den Formen, Farbakkorden, Rhythmen, Motiven folgen und alles unabhängig von seiner inhaltlichen Bedeutung als Zusammenspiel von Mustern und formalen Elementen wahrnehmen, sich also gerade von all dem lösen, was sonst den Alltag bestimmt.

Zur Autonomie gehört zudem, dass sich der Künstler von mimetischen Zwängen freimacht und weder in der Farbigkeit noch in den Formen zu naturgetreuen Darstellungen verpflichtet fühlt. Vielmehr sind Gegenständliches und Ungegenständliches, Sujets und Zwischenräume, Personen und Dinge unterschiedslos Anlass dafür, formale Phantasien zu entfalten; alles wird gleichberechtigt behandelt. Damit aber ist es erst recht Zeit und Raum enthoben und ein von der realen Welt unabhängiges Ereignis. Und je reiner die bildnerischen Mittel ihr autonomes Spiel treiben, desto eher wird man ihre Herkunft auch nicht nur in der ein oder anderen Strömung der Klassischen Moderne festmachen, sondern erkennen, dass sie unter anderen Vorzeichen immer wiederkehren. Die ‚Migration der Formen’ übergreift und verbindet also Epochen und Kulturen. Zwischen einer Höhlenmalerei, einer Darstellung auf einer griechischen Vase, einem romanischen Ornament, einem Gemälde von Matisse und einem von Anton Henning besteht eine enge Verwandtschaft. Diese zu bemerken, bedeutet, ein ahistorisches Wahrnehmen einzuüben.

So autonom Anton Hennings Kunst ist, so unzeitgemäß ist sie jedoch auch. Denn während er seit den 1990er Jahren in großer Kontinuität und mit viel Einsatz sein Werk weiterentwickelte und dabei immer souveräner im Umgang mit seinen Mitteln wurde, hat der Kunstbetrieb sich seinerseits stark verändert. Von der Postmoderne gibt es kaum noch eine Spur, und selbst eine metamoderne Haltung scheint eher selten vorzukommen. Vielmehr ist weithin eine Reideologisierung der Kunst zu beobachten. Allerdings geht sie weniger von den Künstlern als von zahlreichen Kuratoren aus, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu Schlüsselfiguren der Kunstwelt geworden sind. Sie besteht also auch nicht darin, einzelne bildnerische Mittel weltanschaulich aufzuladen, sondern viel eher darin, die Werke von vornherein politisch zu definieren.

Wenn Kuratoren eine Biennale, eine Documenta oder eine andere Großausstellung konzipieren, setzen sie auf Themen, die sich möglichst gut an die Diskurse der Feuilletons, gar an die jeweils emotionalsten Debatten der Massenmedien anschließen lassen. Sie wollen der Kunst Aufmerksamkeit und Relevanz verschaffen, indem sie mit ihr die großen Fragen – den Kapitalismus und die Globalisierung, die Migrationsbewegungen und den Populismus – verhandeln. Entsprechend setzen sie auf Künstler, die in ihren Arbeiten möglichst aktuell auf diese Fragen Bezug nehmen und am besten auch eine klare Meinung dazu zum Ausdruck bringen. Dagegen tauchen apolitische Künstler, die sich in autonomer Tradition lieber mit Formfragen und Bildräumen beschäftigen, bei einer kuratierten Ausstellung kaum noch auf. Und schlimmstenfalls wird ihre Autonomie sogar als Defizit angesehen: als Mangel an politischer Brisanz, als Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Problemen.

Zumindest in den Diskussionen über Kunst ist die Auseinandersetzung mit kunstspezifischen Kriterien nahezu völlig verschwunden. Statt über Stilmittel, Fakturen, Werkentwicklungen oder den Stellenwert von Originalität zu debattieren, ist man ganz von den starken Inhalten der verschiedenen Werke eingenommen. Allein die Themen beherrschen die Debatten. Damit aber wird über Kunst in denselben Kategorien gesprochen wie über Journalismus oder Wissenschaft; jegliche Differenz zwischen ihr und anderen Bereichen der Gesellschaft droht verlorenzugehen.

In dieser Situation, die für die Kunst insgesamt alles andere als ungefährlich ist, wächst einem Oeuvre wie dem Anton Hennings eine zusätzliche Bedeutung zu. Es hat die Kraft und die Aufgabe, der Idee der Autonomie weiterhin Geltung zu verleihen. So wird es zum Lebenszeichen einer Kunst, die nicht erst mit aktuellen Themen aufgeladen werden muss, um relevant zu sein. Dass Anton Henning den in seinen Gemälden verwendeten Mitteln ganz und gar vertraut, ist ein Bekenntnis zur Kunst als Kunst. Und dass es ihm mit seinen Bildern gelingt, nicht weniger als die Klassische Moderne zu läutern und in die Gegenwart zu bringen, ist eine Leistung, die unzeitgemäß sein mag, deren Wert aber gerade deshalb kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.

[1] Vgl. z.B. Wilhelm Pinder: Reden aus der Zeit, Leipzig 1934, S. 63.

[2] Heinrich Klotz: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne, München 1994, S. 162.

[3] Ebd., S. 163.

[4] Robin van den Akker/ Timotheus Vermeulen: Anmerkungen zur Metamoderne (2010), Hamburg 2015, S. 21, 37, 24f.

[5] Ebd., S. 41.

[6] Vgl. http://www.documenta12.de/index.php?id=488.

Als PDF gibt es den Text hier: Anton Henning – Noch moderner

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